Bild nicht mehr verfügbar.

Dünn, dünner und noch dünner: Bei Magersucht ist die Selbstwahrnehmung gestört.

Foto: Reuters

Für einen gesunden Menschen ist es nicht nachvollziehbar. Die Frau wirkt ausgemergelt. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen, die Haut spannt sich über den Knochen. Sie selbst aber findet sich eher noch zu dick und möchte weiter abnehmen. Dünnsein sei schließlich attraktiv und im Trend. Kleidergröße 0 ist das Traumziel.

Das Phänomen ist keine überzogene modische Koketterie, sondern gilt unter Experten als eine der gefährlichsten psychischen Krankheiten überhaupt. Diagnose: Anorexia nervosa, Magersucht. Sie trifft vor allem Mädchen und junge Frauen im Alter von 15 bis 20 Jahren. "Etwa ein Viertel der Patientinnen hat eine richtig schlechte Prognose", erklärt Wolfgang Herzog, Internist und Spezialist für Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg. Nicht wenige Betroffene hungern sich zu Tode, während Angehörige und Ärzte hilflos zuschauen müssen.

Kein Problembewusstsein

Die Behandlung von Anorexia nervosa ist deshalb so schwierig, weil die Patientinnen oft kein richtiges Bewusstsein für ihre Probleme haben. Viele fühlen sich nicht krank. Fachleute haben zwar bereits diverse therapeutische Ansätze erprobt, doch deren Wirkung war bislang nicht ausreichend wissenschaftlich belegt - trotz ausführlicher Richtlinien.

Neue Untersuchungen eines deutschen Expertenteams unter Beteiligung von Wolfgang Herzog und seinen Heidelberger Kollegen zeigen jetzt eine hoffnungsvolle Perspektive auf. Im Rahmen der sogenannten ANTOP-Studie wurden insgesamt 242 erwachsene Magersuchtpatientinnen nach drei unterschiedlichen Methoden behandelt.

80 von ihnen durchliefen eine fokale psychodynamische Therapie, 80 weitere eine kognitive Verhaltenstherapie, die dritte Gruppe aus 82 Testpersonen erhielt eine optimierte Behandlung nach bislang üblichen Vorgaben. Hier steht die Betreuung durch den Hausarzt im Zentrum. Er empfiehlt der Patientin einen Psychotherapeuten und überwacht den Gesundheitszustand. Die Betreuung dauerte für alle drei Gruppen zehn Monate. Am Ende der Behandlung sowie drei Monate und zwölf Monate danach wurden die Frauen psychologisch und medizinisch untersucht.

Harte Zahlen

Die Ergebnisse zeigen eine positive Entwicklung. Zu Beginn der Studie betrug der Body-Mass-Index (BMI) der Teilnehmerinnen je nach Testgruppe durchschnittlich 16,57 bis bis 16,82 kg/m². Einige Patientinnen brachten weniger als 46 Kilo auf die Waage. In allen drei Gruppen legten die Frauen bereits im Verlauf der Therapie an Gewicht zu. Zu Behandlungsende war der mittlere BMI um bis zu 1 kg/m² gestiegen. Zwölf Monate später betrug der BMI-Durchschnittswert bei den psychodynamisch Behandelten sogar 18,21 kg/m² - eine Steigerung von 1,64 Punkten.

Auch in den anderen beiden Gruppen ließ sich eine fortgesetzte Zunahme beobachten. Die psychologischen Untersuchungen zeigten ebenfalls eindeutige Verbesserungen. Nach den gängigen Diagnosekriterien galten 35 Prozent der psychodynamisch behandelten Patientinnen als geheilt. Bei den herkömmlich betreuten Frauen waren es nur 13 Prozent. Weitere Details wurden vor zwei Wochen in The Lancet online veröffentlicht.

Das Ziel: Langzeitwirkung

Das gute Abschneiden der fokalen psychodynamischen Therapie liegt vermutlich in deren Fokus auf die tieferliegenden Ursachen der Anorexia, meint Herzog. Oft seien Beziehungsprobleme in der Kindheit die Wurzel, und diese gelte es aufzuarbeiten. Der psychodynamische Ansatz ziele somit eher auf eine Langzeitwirkung. "Die Verhaltenstherapie führt dagegen zu einer schnelleren Gewichtszunahme", sagt Herzog. Sie fokussiert sich auf die Bewältigung der Krankheit im Alltag, den Umgang mit Essen und die Stärkung des Selbstbewusstseins. Ebenfalls wesentliche Faktoren für den Heilungserfolg.

Interessanterweise jedoch zeigen sich im Endergebnis der drei Studiengruppen kaum statistisch signifikante Unterschiede. Alle drei Behandlungsansätze führen zu positiven Resultaten. "Es ist immer die Beziehung zum Therapeuten, die entscheidet, und nicht die Methode", betont Herzog. In Bezug auf die Unterschiede zwischen psychodynamischer und Verhaltenstherapie wünscht sich der Experte, dass beide Formen Aspekte der jeweils anderen Schule übernehmen würden. Zum Wohle der Behandelten. Denn grundsätzlich hat die Studie gezeigt: "Psychotherapie hilft." (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 29.10.2013)